Die Nichtvorlage einer Frage an den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung seitens eines nationalen Gerichts stellt einen Verstoß gegen das EU-Recht dar wegen der Nichterfüllung von Verpflichtungen eines Mitgliedsstaates
In seinem kürzlich ergangenen Grundsatzurteil in der Rechtssache Europäische Kommission gegen Französische Republik (C-416/17) vom 8. Oktober 2018 im Verfahren nach Artikel 258 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ("AEUV") bestätigte der Europäische Gerichtshof, dass es sich in dem Fall, wenn nationale Gerichte, die in letzter Instanz entscheiden, eine Frage nicht an den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung gemäß Artikel 267 Absatz 3 AEUV vorlegen, um einen Verstoß des Mitgliedsstaats gegen das EU-Recht wegen Nichterfüllung von Verpflichtungen handelt.
Wie von Delhomme und Larripa[1] festgestellt, hat der Europäische Gerichtshof mit diesem Urteil seine Entscheidungen in den Rechtssachen Europäische Kommission gegen Spanien und Ferreira da Silva zusammengebracht, die einerseits jeweils die Möglichkeit der Feststellung der Haftung des Mitgliedsstaats für die Nichterfüllung von Verpflichtungen im Falle einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs dieses Staates vorsehen und andererseits die Möglichkeit der Feststellung eines Verstoßes gegen die Verpflichtungen nach Artikel 267 Absatz 3 AEUV im Falle einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Mitgliedsstaats, die Vorlage der Frage an den Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung abzulehnen. Nach geltender Rechtsprechung ist die Pflicht, dem Europäischen Gerichtshof eine Frage der Auslegung des EU-Rechts vorzulegen, in erster Linie darauf abgezielt, in jedem Mitgliedsstaat die Bildung einer nationalen Rechtsprechung, die nicht mit den Regeln des EU-Rechts übereinstimmt, zu verhindern. Mit dem aktuellen Urteil nimmt der Europäische Gerichtshof eindeutig die Position, dass die Verletzung der Verpflichtungen nach Artikel 267 Absatz 3 AEUV durch das in letzter Instanz entscheidende Gericht tatsächlich die Nichterfüllung der Verpflichtungen durch den Mitgliedsstaat, in dem das nationale Gericht auf diese Weise gehandelt hat, darstellt, wofür die Haftung des Mitgliedsstaats nach dem Verfahren des Artikels 258 AEUV festgestellt werden kann.
In dem Urteil weist der Europäische Gerichtshof darauf hin, dass das in letzter Instanz entscheidende nationale Gericht nach der Acte-Clair-Doktrin aus der Rechtssache Cilfit (C-283/81) verpflichtet ist, die Sache gemäß Artikel 267 Absatz 3 dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, wenn ihm eine Frage über die Auslegung des AEUV gestellt wurde, und von dieser Verpflichtung nur dann frei ist, wenn es feststellt, dass die Frage vor Gericht nicht relevant ist, dass der Europäische Gerichtshof die Frage bereits beantwortet hat oder dass die korrekte Anwendung des EU-Rechts so offensichtlich ist, dass es keinen begründeten Zweifel daran gibt. In der Begründung des Urteils weist der Europäische Gerichtshof auch darauf hin, dass die Feststellung, dass kein begründeter Zweifel an der korrekten Anwendung des EU-Rechts auf der Seite der nationalen Gerichte besteht, sehr restriktiv bewertet wird, was möglicherweise als Druck auf die nationalen Gerichte wirken kann, die Fragen der korrekten Anwendung des EU-Rechts fast automatisch zur Vorabentscheidung an den Europäischen Gerichtshof zu richten.[2]
Mit dem Urteil in der Rechtssache Europäische Kommission gegen Französische Republik hat der Europäische Gerichtshof definitiv einen wichtigen Schritt zur Stärkung der Rechtsbehelfe in der Europäischen Rechtsordnung getan, was auch auf die Autonomie der nationalen Gerichte bei der Beurteilung der korrekten Anwendung des EU-Rechts zurückzuführen ist.
[1] Delhomme V und L Larripa (2018) „C-416/17 Kommission/Frankreich: Nichterfüllung der Verpflichtungen eines Mitgliedsstaats nach Artikel 267 Absatz 3 AEUV“. Verfügbar unter http://europeanlawblog.eu/2018/11/22/c-416-17-commission-v-france-failure-of-a-member-state-to-fulfil-its-obligations-under-article-2673-tfeu/ (22. November 2018).
[2] ibid.